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Wolfgang Hilbig:
Werke 2:
Erzählungen und Kurzprosa


Frankfurt/ Main: S. Fischer Verlag 2009
768 Seiten
ISBN 978-3-10-033642-2
Territorien einer verlorenen Seele




Nach den in Band 1 versammelten Gedichten (S. Fischer Verlag, Frankfurt/ Main 2008) liegen nun im Rahmen der auf sieben Bände angelegten Werkausgabe Wolfgang Hilbigs erstmalig die bisher nur an verstreuten Orten auffindbaren Erzählungen und Kurzprosatexte des 2007 verstorbenen Autors vor. Die Kollektion ist nicht vollständig - allerdings in ihrer jetzigen Gestalt von Hilbig noch autorisiert -, haben sich die Herausgeber doch entschlossen, für drei ebenfalls unter die Erzählungen zu rechnende längere Texte - Die Weiber (1987), Alte Abdeckerei (1991) und Die Kunde von den Bäumen (1994) - einen eigenen Band zu reservieren. Dennoch deutet schon der imponierende Umfang der Publikation - 742 eng bedruckte Buchseiten, auf denen, chronologisch angeordnet, 65 Einzeltexte Platz gefunden haben (davon 13 aus dem Nachlass) - darauf hin, dass dem Leser hier wohl der Kernbereich des Schaffens eines der wichtigsten deutschsprachigen Autoren des letzten Jahrhunderts zugänglich gemacht wird.

Eigentlich sollte man denken, dass dem ostdeutschen Arbeiter-und-Bauern-Staat mitsamt seiner auf dem Bitterfelder und anderen Wegen zusammengeschusterten Kulturdoktrin gar nichts Besseres passieren konnte als ein Dichter vom Formate Hilbigs. War man nicht auf der Suche nach einer Stimme aus jener Klasse, die nominell das Sagen hatte, einem "Greif-zur-Feder-Kumpel", der aus jenem Milieu kam, in das Intellektuelle erst mühsam abgeordnet werden mussten, um sich dann äußerst selten in dem Maße zu assimilieren, wie man das erwartete? Nun, in Wolfgang Hilbig verkörperte sich das alles bereits. Seine Tage verbrachte der 1941 im thüringischen Meuselwitz Geborene malochend. In den Nächten schrieb er. Allein niemand wollte ihn drucken, nicht einmal nachdem er eine von Ironie triefende Anzeige geschaltet hatte, die auf sein brach liegendes Dichtertalent aufmerksam machte. Denn einerseits erfüllte der vaterlos aufgewachsene Prolet zwar alle kaderpolitischen Voraussetzungen für einen Platz im Olymp des sozialistischen Realismus. Andererseits war er dann aber doch wieder viel zu nahe dran an den Vertretern der arbeitenden Klasse und den Bedingungen, unter denen die ihre Existenz fristeten, um die täglich erlebte Erbärmlichkeit auch nur ansatzweise verklären zu wollen.

Und so ergab sich die absurde Sitution, dass einer der wenigen authentischen Arbeiterschriftsteller - wenn nicht gar der einzige -, über die die DDR je verfügte, nichts galt bei jenen, die Kultur mit Propaganda verwechselten und ihr eigenes schiefes Wirklichkeitsbild von literarischen Texten schlicht nur bestätigt sehen wollten. Selbst die vehemente Fürsprache eines Franz Fühmann vermochte es unter diesen Voraussetzungen nicht, Wolfgang Hilbig dorthin zu befördern, wohin er eigentlich gehörte - in die erste Reihe der Schriftsteller seines Landes.

Dass diese Hochschätzung nicht übertrieben ist, dürfen die Leser nun anhand des vorliegenden Bandes mit Prosatexten noch einmal überprüfen. Und derjenige, welcher die bereits an anderen Orten erschienenen Erzählungen und Skizzen darin zum wiederholten Male liest, wird zusätzlich die Erfahrung machen: Sie haben alles in allem nichts von ihrer dunklen Strahlkraft eingebüßt. So fasziniert wie gelegentlich auch irritiert wird man hineingezogen in eine Welt, die dramatisch unterkellert ist. Und hier, wo es nicht auf den schönen Schein ankommt, wo Halbdunkel und Schmutz herrschen und lemurenhafte Geschöpfe dafür sorgen, dass es denen im Lichte an nichts gebricht, begegnen des Autors Figuren - häufig Heizer, wie er selbst einer war, Namenlose, die sich hinter immer wieder denselben Abbreviaturen verbergen - sowohl der verdrängten Geschichte ihres Landes als auch dem eigenen Ich, den düster-grauen Abgründen ihrer Seele.

Es ist die Arbeit eines Archäologen, die Wolfgang Hilbig mit einem Gutteil seiner Prosa verrichtet. Seine Erzähler steigen hinab in die Schichtungen, die das Leben unser aller Vorfahren hinterlassen hat, decken auf, graben um und katalogisieren akribisch das Zutagekommende. Ad absurdum geführt wird dabei immer wieder - wie etwa in dem wenig mehr als zwei Seiten langen frühen Text Die verlassene Fabrik (1971) -, dass eine Jetztzeit ganz ohne ihre Vorgeschichte zu existieren in der Lage ist. Das Ich, das sich hier mehr für die in den Nebeln des Gestern liegende alte Fabrik interessiert als für das mit seinen Lichtern protzende, moderne Kraftwerk, weiß ganz genau, dass es den Schlüssel zum Verständnis der Gegenwart nur finden kann, wenn es sich den mühsamen Weg zurück und hinunter bahnt, zu den Ursprüngen der eigenen Existenz, bis hin zu jener archaischen Szene, in der all das Unglück und Elend des Kommenden bereits beschlossen lag.

Die These, dass sich Hilbigs Erzählungen mit äußerster Beharrlichkeit immer wieder um dieselben (Ur-) Themen herumbewegen, ist sicher nicht von der Hand zu weisen. Dies so zu verstehen, wie der desillusionierte und schreibblockierte Ich-Erzähler in des Autors letzter, aus dem Nachlass in diese Sammlung übernommenen Erzählung, Die Nacht am Ende der Straße, es tut, verbietet sich allerdings. Denn es sind durchaus "Entwicklungen" festzustellen, wenn man sich das Gesamtcorpus der Prosaarbeiten ansieht. Allein ein in den Umkreis des Bandes Der Schlaf der Gerechten (2003) zählender Text wie Ort der Gewitter, illusionslos-poetische Beschreibung einer Nachkriegskindheit und autobiografisch-konkrete Reise ins Quellgebiet von Wolfgang Hilbigs visionärem Schreiben zugleich, lässt ahnen, was von diesem Autor noch zu erwarten gewesen wäre. In diesem Sinne stimmt tatsächlich ein ebenfalls in Hilbigs letzter fragmentarischer Erzählung von 2005 sich findender Satz: "... es kommt mir so vor, als hätte ich noch gar nicht richtig angefangen, als wäre ich irgendwo am Anfang steckengeblieben!"

Die drei Herausgeber - Jörg Bong, Jürgen Hosemann und Oliver Vogel - haben eine so genannte "Leseausgabe" vorgelegt. Das ist für den Moment in Ordnung, auch wenn man an vielen Stellen das Gefühl hat, nachwachsenden Lesergenerationen - und solche sind Hilbig allemal sicher - wäre mit dem einen oder anderen Kommentar, der eine entgrenzte Erzählwelt wieder vorsichtig in Verbindung brächte zu historischen, biografischen, geografischen und politisch-ideologischen Fixpunkten, aus denen sie entwuchs und auf die sie sich bezieht, schon gedient. Doch vorrangig geht es wohl erst einmal darum, vorhandenen Reichtum einzusammeln, um ihn dem staunenden Auge in seiner Vielgestalt zu präsentieren. In diesem Sinne ist auch Katja Lange-Müllers freundliches Nachwort keine philologische Exegese geworden, sondern die Hommage einer sich mit derselben (Sprach-) Materie Herumschlagenden auf einen, der bis zuletzt immer wahr blieb in seinem Schreiben.


© 2010 by Dietmar Jacobsen/ in: Palmbaum. Literarisches Journal aus Thüringen. Heft 1/2010, S. 199 -201.


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